Seismologie & Geophysik

Seismik und Erdbebenwarte

die wissenschafts-historische Bedeutung der Erdbebenwarte

Über Erdbeben

Zur wissenschafts-historischen Bedeutung der Erdbebenwarte

Wer sich über die in dieser Website mitgeteilten Informationen einen ersten Überblick über das Thema der Gefährdung der Wiechert`schen Erdbebenwarte verschafft hat, ist wahrscheinlich zur der Erkenntnis gelangt, dass es hier um eine für die Geschichte der Seismologie wichtige wissenschaftliche Einrichtung mit 100-jähriger Tradition geht, deren Apparaturen Meisterleistungen des mechanischen Handwerks sind. Allerdings besteht nun die Gefahr der Stilllegung oder gar Verschrottung, wenn das Institut für Geophysik in diesem Jahr (2005) in einen Neubau umziehen wird, da dann zumindest die Universität aus finanziellen Gründen kein Interesse mehr an einem Fortbestand habe.

In der dadurch ausgelösten Diskussion mit ihrer vielseitigen und zutreffenden Kritik an einem so leichtfertigen Umgang mit einem „Kulturdenkmal“ soll hier die aus wissenschafts-historischer Sicht gar nicht zu überschätzende Bedeutung dieser Erdbebenwarte besonders herausgestellt werden:

„Die detaillierte Erforschung der physikalischen Beschaffenheit des Erdinnern mit Hilfe von Erdbebenwellen auf der Grundlage neuer apparativer und mathematischer Verfahren hat mit der Gründung der Wiechert`schen Erdbebenwarte im Jahr 1902 von Göttingen ihren Ausgang genommen und steht am Beginn der modernen Seismologie.“ Dazu einige Erläuterungen.

Laufzeiten

Apparaturen zur Aufzeichnung von Erdbebenwellen hat es schon vor Wiechert in recht unterschiedlichen Ausführungen gegeben; allerdings ohne die Möglichkeit, daraus die Daten zu entnehmen, die man für die Erkundung des Erdinneren braucht. Bei diesen Daten handelt es sich um die möglichst genaue Bestimmung der sogenannten Laufzeit, also der Zeit, die eine bestimmte Erdbebenwelle auf ihrem Weg vom Erdbebenherd zur Erdbebenstation braucht. Da es unterschiedliche Typen von Erdbebenwellen gibt  (z. B. Kompressions– und Scherungswellen), die sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten auch noch auf verschiedenen Wegen fortpflanzen können, tritt besonders bei Fernbeben eine Vielzahl von Laufzeiten auf.

Genial: die Wiechert`sche Luftdämpfung

Die Ankunftszeiten der Wellen waren aber in den Seismogrammen der Apparaturen vor Wiechert nicht erkennbar, da die Pendel dieser Seismographen mit der Ankunft der ersten Welle zu Eigenschwingungen angeregt wurden, die automatisch mitregistriert wurden und so die Signaturen vom Eintreffen der nächsten Erdbebenwellen verdeckten. Erst die berühmte Wiechert`sche Luftdämpfung hat dafür gesorgt, dass die Pendel schnell wieder zur Ruhe kamen, wodurch die Ankunftszeiten auch der folgenden Wellen bestimmbar wurden. Um vergleichbare Registrierungen in unterschiedlichen Herdentfernungen auswerten zu können, wurde ein Netz von Stationen mit Göttinger Seismographen (insbesondere dem astatischen Horizontalpendel) eingerichtet. So kam es zu den ersten zuverlässigen Laufzeitkurven.

Geschwindigkeiten von Erdbebenwellen

Die Aufgabe, auf der Grundlage dieser Daten auf die physikalische Beschaffenheit des Erdinnern zu schließen, gehört in der Mathematik zu den sogenannten Inversionsproblemen. Für den vorliegenden Fall wurde diese Aufgabe zunächst 1907 von dem Göttinger Mathematiker Gustav Herglotz grundsätzlich gelöst und dann 1910 von Emil Wiechert für die praktische Anwendung verwertbar gemacht. Das ist das nicht minder berühmte „Wiechert-Herglotz-Verfahren“, das dann von Wiechert und seinen Mitarbeitern als erstes zur Bestimmung der Abhängigkeit der Geschwindigkeit der Erdbebenwellen von der Tiefe erfolgreich verwendet wurde. Von den herausragenden Ergebnissen dieser Zeit sei abschließend nur noch die genaue Bestimmung der Lage der Grenzfläche zwischen Erdmantel und (äußerem) Erdkern in 2900 km Tiefe durch Beno Gutenberg 1913 genannt.

Wie auch die Eintragungen renommierter Wissenschaftler in das Gästebuch dieser Website bestätigen, was vor Ort offenbar kaum oder gar nicht wahrgenommen wird: Hier haben wir – greifbar und sichtbar – die Zeugnisse einer wissenschaftlichen Großtat vor uns, die mit den Methoden moderner Seismologie der Menschheit das Innere des Planeten erschlossen hat, auf dem sie lebt.